Liebe Leserinnen, liebe Leser,
1987 veröffentlichte die US-amerikanische Rockband R.E.M. einen Song mit dem Titel “It’s the End of the World as We Know It (and I feel fine)”. Seither ist die Bezeichnung vom “Ende der Welt, wie wir sie kennen” zum geflügelten Wort geworden, das immer mal wieder hervorgeholt wird, wenn etwas Erschütterndes passiert.
Mir kam der Song letzte Nacht in den Kopf, als ich fassungslos vor dem Fernseher saß und live bei CNN
die Erstürmung des US-Kapitols durch wütende Trump-Anhänger verfolgte. Was da in Washington geschah, war so surreal, dass einem die Worte fehlten. Aufgestachelt durch eine Trotz-Rede des abgewählten US-Präsidenten, enterte eine aufgebrachte Meute das Zentrum der amerikanischen Demokratie, wo gerade die offizielle Ausrufung von Trumps Nachfolger durch den Kongress vorbereitet wurde.
Die Bilder der triumphierenden Eindringlinge, die grinsend auf den Abgeordneten-Plätzen Selfies machten, werden nicht so schnell in Vergessenheit geraten. Zwischen die Pro-Trump-Banner und “Make America Great Again”-Mützen mischte sich auch die eine oder andere Konföderiertenflagge, rassismusbeladenes Symbol für die Rebellion der Konföderierten gegen die Regierung in Washington zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs -
eine ungeheure Provokation an diesem Ort. Die “New York Times” sprach von einem “
hässlichen Tag für Amerika” und erinnerte daran, dass die altehrwürdigen Mauern des Kapitols seit 1812, als britische Truppen das Gebäude in Brand gesetzt hatten, nicht mehr von Außenstehenden eingenommen wurden.
So irre die Bilder auch waren: Vielleicht hat es etwas Folgerichtiges, dass die Amtszeit des Mannes, der die demokratischen Institutionen und die Gewaltenteilung nie respektiert hat, so endet. Donald Trump, milliardenschwerer Immobilien-Unternehmer, Narzisst, Realitiy-TV-Größe und gnadenloser Populist, hat heute immerhin angekündigt, dass er einer friedlichen Amtsübergabe an den Demokraten Joe Biden nicht im Weg stehen wird (aber das Wahlergebnis dennoch nicht akzeptiert).
Vielleicht kommt es aber gar nicht mehr dazu -
immer mehr Abgeordnete, auch solche der Republikaner, fordern eine sofortige
Amtsenthebung Trumps. Facebook und Twitter haben heute die Socia-Media-Accounts des Präsidenten vorübergehend gesperrt. Die Nuklearcodes hat Trump aber weiterhin in der Hand.
Es ist sicher nicht das Ende der Welt. Aber die Welt, wie meine Generation sie kannte, mit den Vereinigten Staaten als stolze Führungsmacht des Westens, hat sich verändert. Die innere Zerrissenheit der USA, die in diesen Tagen besonders sichtbar wird, führt uns auch vor Augen, wie labil und angreifbar die freiheitlichen Demokratien sind. Wir in Europa sollten uns da nicht in falscher Sicherheit wiegen.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend!
Ihr
Henry Lohmar
MAZ-Chefredakteur